9. Kapitel Das Mädchen
Als er den Torbogen erreichte, sah er ein Mädchen, rechts neben diesem stehen. Sie mochte elf oder zwölf Jahre alt sein, trug verschlissene Kleidung, einen grauen, an den Ärmeln zerfranzten Pulli, ein braunes Kleid sowie hohe Kniestrümpfe, die aufgrund des häufigen Gebrauchs heruntergerutscht an den Knöcheln hingen. Ihr goldgelbes Haar stand waagerecht vom Kopf ab und wurde durch Haushaltgummis, die sie an verschiedenen Stellen des Kopfes eingesetzt hatte, in ihrer eigenwilligen Form gehalten.
Neben sich hatte sie einen Rucksack gestellt, in dem Ewald aus einem unerfindlichen Grund ihre Habseligkeiten verstaut zu wissen glaubte.
Gierig kaute sie und je näher er zögernd trat, desto hastiger führte sie ihre Hände von einer Tüte zu ihrem Mund. Dabei brach sie in fahrigen Bewegungen irgendetwas auf, das Ewald erst vor ihr stehend als Pistazien identifizieren konnte.
Sein verhaltenes, „Hallo!“, erwiderte sie mit einem angedeuteten Nicken, ohne in ihrer Tätigkeit inne zu halten. Während sie ihrem Magen weiterhin Pistazien zuführte, ließ sie ihn gleichzeitig nicht aus den Augen und er verspürte einen unangenehmen Druck in seiner Magengegend.
„Hallo!“, und ein nochmaliges Nicken bedeuteten ihm zu warten. Schon überlegte er einfach weiter zu laufen, als das Mädchen, mit vollem Mund noch etwas äußerte, dem Ewald aufgrund des Nicht– Verständnisses mit einem, „Wie bitte?“, begegnete.
„Mögen sie auch eine Pistazie?“, fragte sie mit besorgtem Blick.
„Nein, danke!“ und der besorgte Blick verschwand hinter der weiterkauenden Gesichtspartie. Langsam verflüchtigte sich der prägnante Gesichtsausdruck.
Sie ließ sich im Schneidersitz auf den Boden gleiten und er setzte sich etwas umständlich ebenfalls in das Gras.
„Bist du schon lange hier im Garten?“ nutzte Ewald die entstandene Pause und betrachtete die vor ihm Sitzende mit gerunzelter Stirn.
„Ich lebe hier!“
„Hier?“
„Ja! Mit meiner Mutter zusammen – schon seit Jahren“, ergänzte sie.
„Ich weiß gar nicht mehr seit wann…“, die folgenden Worte verloren sich zwischen den munter weiter kauernden Zähnen.
„Du lebst hier im Garten?“, vergewisserte er sich noch einmal.
„Ja! Jeden Tag und jede Nacht. Im Sommer und im Winter – natürlich auch im Winter…“
Eine einsame Pause entstand. Sie kaute Pistazien und er zermarterte sich das Hirn, was er sagen sollte.
Hatte sie wirklich den Winter gemeint, den weißen Winter… klirrender Frost und eine in Spannung verharrte Natur; die Zweige im Saft gefroren und irgendwo, an der Hecke gelehnt zwei fröstelnde Menschenkörper…
„Wir schlafen im Winter in einem Versteck. Wo aber darf ich nicht verraten. Meine Mutter sagt, ich muss vorsichtig sein was ich erzähle, gerade weil mein Geist verwirt ist. Also muss ich mich gescheit anstellen und das werde ich auch. Darum sage ich nichts - denn so gescheit bin ich.“
Sie betrachtete ihn und er empfand es, als würde trotz aller Beteuerungen ein Teil ihrer wintererprobten Seele mit der Teilhabe seinerseits an ihrem Geheimnis kokettieren. Allein, es schien ihr der Mut zu fehlen…
„Wenn wir gerade im Winter… wenn wir im Winter zusammen sind, frieren wir – natürlich frieren wir. Am Schlimmsten ist es, wenn wir dazu noch Hunger haben.“
Scheinbar durch die Erinnerung motiviert griff sie in ihre Tüte, brach eine weitere Pistazie und steckte sie in ihren Mund. Noch kauend fragte sie: „Sind sie schon einmal mit hungrigem Magen, bei Kälte ins Bett gegangen? Haben sie schon einmal im Bett gelegen – mit knurrendem Magen? Das ist dann schon komisch: in einem kalten Raum hört man dieses kalte Knurren. Dann fröstelt es einen wirklich…“
Kurz stockte sie in ihren Ausführungen und korrigierte umgehend einen Teil ihrer Erzählung: „Wenn ich von unserem Bett erzähle, meine ich natürlich kein richtiges Bett. Na ja, wir haben selbstverständlich kein Bett, aber es gefällt mir, wenn ich von einem Bett erzählen kann.“
Wieder schien sie Ewalds Beteiligung an ihrem Geheimnis, dem Schlafplatzversteck abzuwägen, wie er ihrem Blick zu entnehmen glaubte.
Die folgende Pause beanspruchte einen guten Teil der Ewigkeit. Er wusste nichts zu sagen und sie schien angestrengt zu überlegen.
Kurz hob sie den Kopf, dann ergriff sie wieder, diesmal zögernd das Wort: „Meine Mutter schläft mit dem Verwalter des Gartens, wann immer er es möchte. Dafür dürfen wir hier leben. Er gibt uns zu essen und zu trinken. Er ist ein großer Herr.“
Sie schwieg, schaute sorgenvoll auf ihre Tüte und er begriff so langsam, wie seine Naivität erlaubte.
„Du meinst…“, er überlegte und verstummte.
„Ja!“ neugierig geworden betrachtete sie ihn. „Meine Mutter würde alles für mich tun. Wir brauchen zu essen und zu trinken und natürlich unser warmes Versteck. Möchten sie wissen, wo unser Versteck ist?“
In ihrem Gesicht konnte er deutlich das alte Dilemma erkennen, dass nämlich ein Geheimnis, das nicht weitergegeben wird letztendlich nur eine Entbehrung ist.
Also machte sie alle Anstalten, das Angedeutete zu verraten.
Aber jetzt ging es nicht mehr um irgendein Versteck. Sollten sie doch schlafen, wo sie wollten! Darum ging es nun nicht mehr! Ihre Mutter also prostituierte sich für das Essen – für diese Pistazien!
Ewald spürte einen Zorn aufsteigen, der ihm selbst unangemessen und ungerechtfertigt erschien und doch…, „Sei still!“ fuhr er sie barsch an.
Ihren erschrockenen Blick registrierend aber bereute er direkt wieder, „Bitte entschuldige!“
Er wusste in diesem Augenblick schon, dass er einem Kontrollverlust erlegen war, der unter strengem Gesichtspunkt unentschuldbar war und doch spürte er, dass ihn etwas Mächtigeres als sein Wille vorangetrieben hatte. Moralische Aspekte waren ihm eher fremd und doch gab es etwas, was ihn tief berührte, ja nahezu verletzte…
Das Mädchen saß jedenfalls verhalten und verstört vor ihm.
Plötzlich aber schien sie eine Idee zu entwickeln. Sie griff wieder in die Tüte, förderte eine Pistazie heraus, knackte die Schale und steckte die Nuss in ihren Mund. Dabei betrachtete sie ihn ernst und mit einem gleichzeitig vorsichtigen Blick.
Nun griff sie erneut in die Tüte, holte wiederum eine Pistazie heraus und hielt sie ihm auf der flachen Hand entgegen. Ihre Augen schimmerten und ihre Hände schwitzten. Und doch empfand Ewald in diesem Augenblick kein Mitleid, vielmehr musste er an ihre Mutter denken. An eine Mutter, die sich für ihre Tochter prostituierte und an eine Tochter, die aus dieser Tatsache, scheinbar ohne jedes moralische Hinterfragen, einen Nutzen zog.
Den Kopf leicht schräg gehalten, streckte die Eingeschüchterte noch immer ihre Hand aus, mit einer versöhnlichen Nuss und einem begleitenden, undeutlichen Lächeln. Ja, nun schien sie selbst zu einer einzigen Entschuldigung zu werden; einer Entschuldigung, mit schimmernden, naiven Augen und einer zitternden Nuss in ihrer Hand.
Es war sein Zorn, der mit seiner Beherrschung rang…
Ohne selbst zu begreifen was er tat, schlug Ewald ihr die Pistazie mit einem kräftigen Hieb aus der Hand.
Verstört saß diese Entschuldigung nun, mit immer noch ausgestreckter Hand, die feuchten Hände geneigt, nunmehr ohne Inhalt, ohne Pistazie…
Die Nuss hüpfte über die Steine, dann endlich fand sie eine Nische - ihre hellbraune Schale wirkte irgendwie verloren zwischen all dem Kieselsteinweiß…
„Es tut mir leid“, hörte er sich verlegen räuspern. „Entschuldigung!“, noch einmal… mit gesenktem Kopf.
Seine Hand fuhr unruhig suchend durch die Luft, im Bestreben die verlorene Ruhe wieder zu finden.
Das Mädchen widerum betrachtete ihn noch immer mit verhaltenem Blick und schwieg einen lang gezogenen Augenblick. Dann, so nahm er jedenfalls an, meinte sie vermutlich durch weitere Erklärungen seine Wut mäßigen zu können…
„Ich weiß, was sie meinen aber meine Mutter macht das gerne. Sie liebt mich und gibt mir alles, was ich brauche. Und dem Verwalter des Gartens gibt sie ein wenig Liebe. Er ist gut zu ihr - meine Mutter hat es mir erzählt. Er ist gut zu ihr und gibt uns zu essen.“
Stockend und zögernd hatte sie die nachgeschobene Erklärung abgegeben, dann legte sie eine kleine schimmernde Pause ein.
„Sie möchte, dass wir leben. Dafür braucht man sich eigentlich nicht zu entschuldigen, oder?“
Ein sachter Wind hatte die Pistazie zwischenzeitlich aus ihrer Nische gehoben und trieb sie über die Kieselsteine, während sich das Mädchen mit dem Handrücken über die Augen wischte.
„Und er tut, was Menschen tun, die einsam sind und allein. Meine Mutter sagt, er ist nicht schlecht, nur weil er Liebe will. Alle Menschen wollen Liebe – oder nicht?“ Ihre dunklen Augen blickten ihn fragend an und sein eigenes tiefes Innere zwang seinen Blick zu Boden…
Wieder aufblickend bemerkte er, dass die Pistazie noch immer über die Steine rollte und er schaute ihr hinterher, bis sie sich seinem Blickfeld entzog.
„Trotzdem, er nutzt eure Notsituation aus“, beharrte er, ohne sie anzuschauen.
Meine Mutter macht es, weil sie mich liebt“, beharrte auch sie.
„Wenn es einen Gott gibt, würde er es verurteilen“, hoffte er wenigstens auf einen Punktsieg.
Ewald war keineswegs gottesfürchtig, beziehungsweise einem religiösem Glauben verbunden und doch meinte er Gott erfahren zu haben. Nicht beim Tod seiner Frau, bestimmt nicht - aber während seiner Kindheit.
Er erinnerte sich an die Nachtgebete, die seiner Kindheit eine frische Brise Geborgenheit zuführten und an das folgende „Amen“, das den Tag - sowie die ersten kindlichen Sorgen beendete. An ein „Amen“, das den Tag zusätzlich, mit der Gewissheit des Aufwachens beendete, der Wiederauferstehung aus dem Kontrollverlust all seiner gerade erwachenden Fähigkeiten… dann: die Kindergottesdienste, seine Konfirmation… danach aber: der Verlust sämtlicher Nähe zu Gott.
Und doch…
„Es gibt keinen Gott!“, beendete sie seinen Gedankengang abrupt.
Ewald spürte die eingeholte Luft durch seine Lungenflügel gleiten.
„Woher willst du das wissen?“, fragte er.
„Na, ja – ich sage das einfach so; aber es stimmt!“
Statt einer Antwort spielte Ewald mit einem ironischen Lächeln.
„Nein! Nein! Es gibt keinen Gott!“ Fast erschrocken schaute sie ihn an.
„Warum glaubst du, sollten die Menschen so etwas wie Gott erfinden?“
„Weil wir manchmal allein sind und dann frieren wir. Dann kommt Gott vorbei und macht uns wieder warm.“
„Also doch! - Gott!“ Belustigt betrachtete er die sorglos Naive. Sie aber schaute ihn irritiert und staunend an.
„Es ist so schön zu glauben dass es Gott gibt, dass mir, wenn ich alleine bin, warm wird.“
Versonnen blickte sie auf ihre Beine, die sich aufgrund der Blässe unter dem verschlissenen braunen Kleid abhoben. Mager leuchteten sie, die Knochen am Schienbein hervorgetreten und ein blaugrüner Fleck tanzte auf ihrem Knie, so oft sie es bewegte.
Sie lächelte und lächelte und lächelte und schien doch vergessen zu haben, warum… Leicht, federleicht dieses Lächeln, an jede einzelne Wolke gebunden und doch frei und erhaben…
„Und gibt es ein Paradies?“ Diese Frage hatte sich aus einem Nichts geworfen, aus seinem Nichts.
„Wenn wir sterben, frieren wir ganz furchtbar und dann kommt Gott vorbei und tötet uns mit seiner Wärme. Das ist dann das Paradies.“
Der blaugrüne Fleck schien nun ebenfalls zu lächeln, tanzend zu lächeln…
„Wer sagt so was?“
„Meine Mutter!“
„Deine Mutter?“
„Ja! Wieso fragst du?“
„Ach, ich weiß nicht.“
Er legte seine Hand auf seine Beine und schwieg einfach. Plötzlich nämlich in
diese Stille hinein spürte er, dass er allein war und eigentlich auch fror.... Mit sachter aber dogmatischer Klarheit wurde ihm sein Allein – sein bewusst. Da war niemand mehr, der sein Haus richtet, sein Befinden, seine Gefühle in einer Prioritätenliste liebevoll verwaltete…
Er betastete sein Knie und spürte, dass er nicht einmal einen Fleck vorzuweisen hatte, nicht einmal einen Fleck… dass seine Äußerungen über Gott nur ein Geplapper waren, im wahrsten Sinne des Wortes nur ein Geplapper, ein Gerede ohne jede Tiefe. Und er spürte, dass seine Überheblichkeit, seine Ironie, Ausdruck seiner Verlegenheit war - er, der vor so viel naiver Schönheit und eigener Eleganz in seiner Selbstgefälligkeit Schutz gesucht hatte.
Nun saß dieses naive Mädchen in stiller Anmut vor ihm; mit einer kränklichen Blässe und einem Fleck auf dem Knie, den sie sich beim Suchen nach einem geeigneten Schlafplatz im Garten zugezogen haben mag. Aber: sie leugnete Gott, den sie so nahe bei sich trug und er? Er trug keinen Gott bei sich und wusste nicht einmal dies…
Ein Rascheln weckte ihn aus seinen Gedanken. Die Hand des Mädchens war zwischenzeitlich in die Tüte gefahren und nun ließ sie die Pistazien durch ihre Finger gleiten - langsam und genussvoll. Gleichzeitig schloss sie die Augen und schien zu träumen. Jede Pistazie hinterließ ein helles Prasseln, wie Regentropfen, die gegen eine Scheibe fallen…
Längst hatte Ewald die aus der Hand geschlagene Pistazie aus den Augen verloren, nur die Vertiefung, die kleine Nische glänzte im Licht, leer, unaufgeregt…
Das Schweigen und das zufriedene Gesicht des Mädchens…
Es war etwas wie eine Beruhigung, die sich aus dem unmittelbaren Geschehen über ihn gelegt hatte und seinen Zorn wie Handrückenwischen ohne Spuren zu hinterlassen, entsorgt hatte.
Es war ihr zufriedenes Gesicht, die Augen unter den Lidern in ihr Bett gelegt, in ihre eigene Schale… Es war das Sonnengoldgelb einer zufriedenen Wärme, sogar das Rascheln aus der Pistazientüte heraus war ein Ruhiges, Sanftes, Zufriedenes…
Alle Sinne schienen für diesen Augenblick einer meditativen Nuance überantwortet.
Und nun fing sie an zu summen, eine einfache kleine Melodie. Irgendwie kam ihm das Lied bekannt vor aber er konnte sich nicht mehr genau erinnern. Zu lange schon lag diese Erinnerung zurück – die Melodie hatte in seiner Kindheit stattgefunden.
„Hmmm, Hmmm, Hmmm“, summte sie und ihr Kopf schwang wie ein ausklingendes Pendel rhythmisch begleitend dazu…
„Hmmm, Hmmm“, und nun betrachtete er sie, wie sie vor ihm saß und pendelte, eine Hand auf ihre Brust gelegt, als suche sie einen Halt. Vielleicht hätte er sie in einer ähnlich gelagerten Situation belächelt, jetzt aber strahlte sie nur eine tiefe Anmut aus, die ihn beschämte.
Ihr Haar, goldgelb, strahlte im Licht und ihr Gesicht, losgelassen aber gleichzeitig konzentriert… Nur ihre Lippen bewegten sich in sachten Andeutungen.
„Hmmm, Hmmm, Hmmm“, hörte Ewald die kleine Melodie und nun erinnerte er sich mit der Vehemenz, die ein Stakkato ähnliches Ausatmen erforderlich werden ließ.
Seine Tante!
Na, ja, eigentlich war sie nicht seine Tante sondern vielmehr seine Großtante, aber diese Vereinfachung hatte sich unter den Kindern entwickelt und so hatte eine folgende Eigendynamik diese Anrede im Familienkreis etabliert.
„Hmmm, Hmmm, Hmmm“, sang es immer noch und nun öffnete seine Erinnerung endgültig eine Tür und ließ ihn ein.
Ja! Hager, korrekt und schrullig, so hatte er die besagte Tante in seiner Erinnerung gepflegt.
Wenn sie zu Besuch kam und das passierte nicht häufig, so stand damals alles Kopf.
Die ganze Wohnung wurde gereinigt und er und seine Brüder wurden der Tortur des ausgiebigen Waschens ausgesetzt, gegen ihren deutlichen Willen…
Trotzdem: danach erstrahlte alles in einem anderen Glanz, der sich aus einem unerfindlichen Grund auch auf die Tante übertrug. Die Scheiben sauber, der Boden ein Funkeln und alles, besonders ihre Kinderhaare, rochen nach Vanille.
Dann irgendwann geschah es: Irgendjemand, dessen gespannte Aufmerksamkeit nach langem Stieren durch die geputzten Scheiben Erlösung fand, ließ ein triumphales Geheul erklingen: „Die Tante kommt!“
Alle Kinder stürzten dann an die Scheibe, um ihren Einzug, der mit einem weißen Renault in ihren Mietshof stattfand, nicht zu verpassen.
Er selbst hatte einmal so voller Spannung gesteckt, dass sein schlachtenähnlicher Vorfreudenschrei zu einer Mischung aus einem Krächzen und hysterisch klingendem Geheul wurde und für tagelangen Spott sorgte: „Die Tante kommt!“, riefen seine Brüder und stimmten anschließend in ein unartikuliertes Geheul ein. Wie auch immer…
Aber diese Melodie…
Die Tante hatte alle drei Jungen während ihrer Besuchszeit, immer wenn es ihr möglich war, zu Bett gebracht und genau diese kleine Einschlafmelodie gesummt. Dabei hatte sie sich Zeit gelassen und keineswegs angestrengt gewirkt. Alles war einer großen Loslösung anheim gegeben. Ihre kindliche Spannung hatte sich irgendwann tatsächlich in dem sorgsam vorgetragenen Summton verloren.
Sie war etwas ganz besonderes, ohne dass er hätte beschreiben können, warum. Es war einfach so.
Vielleicht war es ihre Art mit Sachen und Menschen umzugehen, sie zu beschreiben oder zu betrachten. Vielleicht war es ihr stählerner Wille, den sie in bestimmten Situationen erkennen ließ und den seine Eltern als Starrsinn bezeichneten. Vielleicht war es das laute Fluchen, das sie bei allen möglichen Gelegenheiten hören ließ und das die Kinder zu solidarischen Begeisterungsstürmen bewegte. Vielleicht war es auch nur die Bewegung, die sie in ihr gepflegtes Familienleben hineinbrachte und mit ihrem extrovertierten Gemüt in folgende fremd erscheinende Schwingungen versetzte.
Sie war nicht verheiratet und so konnte sie sich den Luxus einer ausgeprägten Persönlichkeit leisten…
Jedenfalls bedeutete ihre Ankunft stets ein Austritt aus allen Gepflogenheiten, jeglicher Ordnung.
„Hmmm, Hmmm, Hmmm“, erfüllte alles den Hintergrund und er dachte an die Badewanne, den Renault und das Summen, das die Nacht einläutete…
Trotzdem gab es etwas, was die Tante zu einem Geheimnis werden ließ. Einen Teil ihrer Persönlichkeit nämlich hatte sie gepflegt, ohne dass auch nur irgendjemand etwas davon ahnen konnte.
Er wusste noch um den Schrecken aller, als sie von ihrem Selbstmord erfuhren.
Ein tragischer Selbstmord.
Eines Tages durchbrach sie mit ihrem Renault die provisorische Sperre eines nahe liegenden Flusses und kam knapp unterhalb der Wasseroberfläche zum Stehen.
Zwei Männer, so wurde ihnen später berichtet, sprangen umgehend ins Wasser und versuchten die Türen ihres Wagens zu öffnen, um sie zu befreien.
Allein, die Tante drückte die Verriegelung von Innen mit energischer Geste, in der ihr Wille aber auch ihre Verzweiflung gesteckt haben muss. So sperrte sie ihre letzte Lebenschance einfach aus.
In ihrem Abschiedsbrief, den sie als nächste Angehörige erhielten, schrieb sie, dass sie keinen Sinn in einem Leben sehe, dessen Höhepunkt die Wahl des täglichen Mittagessens sei.
„Hmmm, Hmmm, Hmmm“, tönte das Mädchen mit immer noch geschlossenen Augen und Ewald schloss nun ebenfalls die Augen.
Die Tante, die Tante – dachte er und wusste, dass dieses Summen ein Letztes sein würde. Das Mädchen würde, wie seine Tante damals, in irgendeiner Vertiefung verschwinden…
"Hmmm. Hmmm, Hmmm," dann hörten selbst die Töne auf zu sein.
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